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Gewalt, Amokdrohungen, individuelle Krisen
Redebeitrag von Beat W. Zemp, Zentralpräsident des LCH, vom 25.6.2009 in Bern

Der Umgang mit Krisen im Kontext Schule hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Heute muss jede Lehrperson damit rechnen, dass sie es im Verlauf ihrer Berufslaufbahn ein- oder mehrmals mit schwerwiegenden Krisen oder Notfällen zu tun bekommt. Ich nenne Ihnen drei Beispiele aus meiner eigenen dreissigjährigen Schulerfahrung:

- Vor zwei Wochen mussten wir eine Kollegin beerdigen, die mit 49 Jahren an Brustkrebs gestorben ist. Ihre Klasse wird in einem halben Jahr die Maturaprüfung machen. Wie nimmt man als Kollegium Abschied in einer solchen Situation, und wie kann man die betroffene Klasse und die Eltern einbeziehen?

- Als Klassenlehrer hat man eine besondere Verantwortung und Beziehung zu seinen Schülerinnen und Schülern. Sie wachsen einem ans Herz und man möchte Ihnen beim Start ins Leben so gut wie möglich behilflich sein. Was ist zu tun, wenn man erfährt, dass eine Schülerin der eigenen Klasse einen Suizidversuch unternommen hat? Wie soll man sie in ihrer Klasse empfangen, wenn sie wieder in die Schule zurück kommt?

- Auf einer mehrtägigen Schulreise eines Kollegen ereignet sich im Tessin ein tragischer Badeunfall eines Schülers. Er springt nach einer mehrstündigen Wanderung an einem schwülheissen Sommertag in die kalte Maggia und erleidet einen Herzinfarkt. Seine Leiche wird es viel später im Lago Maggiore gefunden. Gegen den Kollegen läuft ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung, weil er kein Badeverbot erlassen hat.

Wie soll man sich in dieser schwierigen Situation verhalten? Das sind nur drei Beispiele von vielen Krisen- und Notsituationen, mit denen man als Lehrperson heute konfrontiert ist. Ich habe bewusst keine spektakulären Fälle aufgezählt, um zu zeigen, dass der Umgang mit Krisen und Notfällen heute zum "normalen" Repertoire jeder Lehrperson gehört.

Der LCH hat vor 10 Jahren eine Studie zu den Disziplinproblemen an Schweizer Schulen in Auftrag gegeben. Die Resultate bestätigten unsere eigene Wahrnehmung im Verband. Das Umgangsklima an den Schweizer Schulen ist rüder geworden, insbesondere unter den Schülerinnen und Schüler. Vereinzelt gab es auch schon Bedrohungen und körperliche übergriffe gegen Lehrpersonen.

Seither haben leider einige tragische Ereignisse dafür gesorgt, dass die Schwelle von Gewalttaten gegenüber Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler weiter gesunken ist:

- Im Januar 1999 wird Paul Spirig, Reallehrer im Kanton St. Gallen, vom Vater einer seiner Schülerinnen erschossen, weil er die Schülerin vor den sexuellen Übergriffen ihres gewalttätigen Vaters schützen wollte.

- Im April 2002 erschiesst ein 19-Jähriger Gymnasiast am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten, bevor er sich selber tötet. Es ist das erste Schulmassaker dieser Art in Deutschland. Weitere werden folgen, zwei in Finnland und eines vor drei Monaten an einer Realschule in Winnenden, wo 15 Menschen ermordet werden.

- In den letzten Monaten berichten die Medien immer wieder von Krisen und Notfällen an Schulen. Die Palette reicht dabei von Mobbing, Vergewaltigungen unter Schülerinnen und Schülern bis hin zu Morddrohungen gegen Lehrpersonen.

Wenn man diese Aufzählung hört, könnte man den Eindruck gewinnen, an den Schweizer Schulen herrschen die nackte Gewalt und das blanke Chaos. Das ist aber völlig übertrieben. Es ist wie beim Fliegen: Gute Piloten meistern einen Flug auch dann, wenn es ab und zu schüttelt und das Flugzeug durch Turbulenzen fliegen muss. Es gibt aber - wie wir alle wissen - auch ernsthafte Krisen und Notfälle, die zum Absturz eines Flugzeugs führen können. Und darauf muss sich jeder Pilot im Simulator vorbereiten, damit er in Krisensituationen richtig handeln kann. Das gilt im übertragenen Sinn auch für Lehrpersonen als Klassen-Pilotinnen und -Piloten! Deshalb muss insbesondere für Klassenlehrpersonen mehr Zeit für solche Aufgaben zur Verfügung stehen, denn die Arbeitsbelastung ist bereits heute sehr gross.

Der «KrisenKompass» leistet einen wichtigen Beitrag zum Umgang mit schulischen Turbulenzen. Denn die Schule ist ein Abbild der Gesellschaft mit all ihren Problemen, Widersprüchen und Dilemmas. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Schweizer Schulen auf ewig von tragischen Ereignissen wie in Winnenden oder Erfurt verschont bleiben. Wir müssen aber alles daran setzen, solche Amokläufe nicht noch herbei zu schreiben oder herbei zu reden! Das könnte mögliche Nachahmer dazu ermutigen, ihre kranken Gewaltfantasien in die Tat umzusetzen. Trotzdem müssen wir uns auch auf solche «worst case»-Szenarien vorbereiten und wissen, was im Ernstfall zu tun ist. Der LCH plant in Zusammenarbeit mit der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten (KKPKS) Weiterbildungskurse, bei denen Lehrpersonen und Schulleitungsmitglieder den Umgang mit einem Amoklauf wie in einem Ernstfall üben können.

Auf diesem Hintergrund erarbeitete edyoucare, die internationale Fachstelle für Gewaltprävention, Krisenintervention und Trauerbegleitung, den KrisenKompass©, der den Verantwortlichen im Kontext Schule hilft, den Umgang mit den im Schulalltag häufigsten Krisen vorzubereiten und so im Ernstfall handlungsfähig zu sein.

Es geht aber um viel mehr als «nur» um Amokprävention. Die Palette von Krisen und Notfällen, die im «KrisenKompass» behandelt werden, ist umfangreich. Nehmen wir als Beispiel den Suizid von Jugendlichen. Fast jede Woche ist eine Schule in der Schweiz davon betroffen. Männliche Jugendliche wählen dreimal häufiger den Freitod als weibliche Jugendliche, und homosexuelle Jugendliche sind fünfmal mehr betroffen als Heterosexuelle. Für Schulen ist der Suizid eines Jugendlichen eine schwere Belastung. Die Nachahmergefahr ist gross, wenn Schüler mit der traumatischen Situation nicht umgehen können. Das erfordert einmal mehr Lehrpersonen und Fachleute, die mit solchen heiklen Situationen umgehen können.

Der LCH fordert daher seit dem Mord an Paul Spirig in allen Kantonen Kriseninterventionsteams, die den Schulen in solch schwierigen Situationen beistehen können. Der Kanton St. Gallen hat als erster Kanton erkannt, dass die Krisenintervention an den Schulen professionalisiert werden muss.

Solche Weiterbildungsveranstaltungen und Kriseninterventionsgruppen muss es künftig in allen Kantonen geben. Behörden, Schulleitungen und Lehrpersonen brauchen ein Handbuch wie den «Krisen-Kompass», der ihnen eine Orientierung gibt und hilft, in Krisensituationen das Richtige zu tun und grobe Fehler zu vermeiden. Die im Handbuch beschriebenen Notfallkonzepte müssen aber auf die lokalen Verhältnisse und die jeweilige Kompetenzverteilung zwischen Behörden, Schulleitungen und anderen Fachstellen abgestimmt werden.

Es genügt also nicht, wenn in jedem Schulhaus ein «KrisenKompass»-Ordner steht. Wir brauchen auch mehr Fachpersonal und Kriseninterventionsteams, die in Zusammenarbeit mit den Schulen für eine lokale Umsetzung vor Ort sorgen können. Und dazu gehört die Entwicklung von Notfallkonzepten für jedes Schulhaus. Fachleute sind sich einig: Mit einer guten schulischen Präventionsarbeit und dem Erstellen und üben von Notfallkonzepten können Schulen kleinere und mittlere Krisen selber gut bewältigen.

Die Kriseninterventionsgruppe des Kantons St. Gallen leistet im Durchschnitt pro Schuljahr rund 100 Interventionen. Diese Zahl belegt eindrücklich die Notwendigkeit solcher Institutionen in allen Kantonen der Schweiz. Zwar sind auch andere Kantone dem Vorbild von St. Gallen gefolgt und haben schulische Care-Teams geschaffen, den schulpsychologischen Dienst ausgebaut oder Spezialisten für Gewaltprävention beigezogen.

Für schwere Krisen und Notfälle braucht es jedoch speziell geschulte Kriseninterventionsgruppen, die rund um die Uhr für Lehrpersonen, Schulleitungen und Schulbehörden erreichbar sein müssen. Und die gibt es noch nicht überall. Die Geschäftsleitung des LCH hat die Herausgabe des «KrisenKompass» von Anfang an unterstützt und gefördert. Vor allem Schulleitungsmitglieder und Klassenlehrpersonen werden bei der Bewältigung von Krisen und Notfällen darin Hilfestellungen finden. Der «KrisenKompass» gehört deshalb in jedes Schulleitungsbüro und in jedes Lehrerzimmer.

Ich danke den Autoren des internationalen Fachteams von «edyoucare» sehr herzlich für ihre wertvolle Arbeit und dem Schulverlag blmv AG für die sorgfältige Realisierung des Handbuchs. Ein besonderer Dank geht an Christian Randegger, der als Projektleiter mit einer grossen Portion Durchsetzungswillen am Zustandekommen dieses Handbuchs massgebend beteiligt war. Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass es auch bei diesem Projekt kleinere und mittlere Krisen gab, die eine „Krisenintervention“ des Projektleiters erforderten. Christian Graf und Peter Uhr danke ich für die Betreuung des Projekts seitens des Schulverlags.

Noch ein letztes Wort zu unserer Rolle als Berufsverband: Der LCH unterstreicht als Mitherausgeber dieses Handbuchs die Wichtigkeit dieser Publikation für seine rund 50'000 Mitglieder. Wir werden das Handbuch auch unseren befreundeten Verbänden in Deutschland und Österreich vorstellen. Das wird anlässlich des nächsten trinationalen Treffens der Spitzen der deutschsprachigen Lehrerverbände in Berlin der Fall sein. Und wir werden auch abklären, ob unser Schwesterverband in der Romandie, das Syndicat des Enseignants Romands SER, ein Interesse daran hat, diese Publikation für die französischspachige Schweiz übersetzen zu lassen.

Die beste Prävention gegen Gewalt, Amokdrohungen und individuelle Krisen von Schülerinnen und Schülern ist ein gutes Schulklima und eine Vertrauensbeziehung zu den Lehrpersonen. Guter Unterricht und erfolgreiches Erziehen setzt immer intakte menschliche Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden voraus. Daran ändert auch der «KrisenKompass» nichts. Ich wünsche mir zwar, dass dieses Handbuch an jeder Schule griffbereit vorhanden ist. Gleichzeitig hoffe ich aber auch, dass Lehrpersonen, Schulleitungen und Schulbehörden davon möglichst selten Gebrauch machen müssen.

Quelle: Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH, Juni 2009
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